Kauwörter

Auch eine Art, zur Ruhe zu kommen

Manchmal schickt der Mensch seine Gedanken auf Reisen und kommt nirgendwo richtig an. Das kann bisweilen anstrengend werden. Ähnlich wie ein Kirmesbesuch, bei dem man keine Karussellfahrt auslässt. Selbst wenn es heißt „und die nächste Fahrt geht rückwärts“ steigt man immer noch nicht aus, sondern fährt bereitwillig weiter.

Bei Nacht lauert er am heimtückischsten, der Wahnsinn, der schleichende….

Am schlimmsten sind wohl die Lieder, die einen nachts heimsuchen und nicht einschlafen lassen, die Gedanken sind auf Klangfahrt, haben sich in einem Plattensprung verfangen und finden die Stopp-Taste nicht.
Es gibt so viele Möglichkeiten, die Bremse zu ziehen, die aber längst nicht alle funktionieren. Weil jeder Mensch eben anders strukturiert ist in der Art und Weise, wie er sich im Denknetz verheddert und die daraus entstehenden Knoten löst.

Neulich erzählte mir eine Bekannte über ihren Versuch der Wortmeditation. Man suche ein Wort, das flüssig von der Zunge rollt und sage es gedanklich immer und immer wieder vor sich hin. Minutenlang. Falls man denn so lange durchhält und nicht vorher schon im Reich der Träume versinkt. Ich fand das sehr interessant, hatte es selbst nie ausprobiert. Irgendwann las ich mal von Mönchen, die immer und immer wieder bestimmte Gebetszeilen wiederholen und sich somit in einen tiefen Zustand der Meditation versetzen.

Als mich vor einiger Zeit mal wieder ein Gartenzwerglied heimsuchte, testete ich dies für mich aus und stellte fest, dass sich W-Wörter hervorragend dazu eignen, Schlagerterroristen aus dem Kopf zu verbannen. Damit meine ich nicht Fragewörter, sondern eher so weiche Wörter wie Wind, Wolken oder Wasser.

Mein absoluter Favorit ist Bruder Wind, er bläst den Kopf frei, wenn man ihn immer wieder beim Namen nennt. Innerhalb kürzester Zeit verstummten die niederträchtigen Bumsfalleraweisen in meinem Hirn und ich entschlummerte.
Das war ja mal ein Senkrechtstart in Sachen Selbstüberlistung. Und das ganz ohne Investition in irgendwelche fragwürdigen Kurse, bei denen man so etwas von einem Guru beigebracht bekommt und für die man viel Geld bezahlt. Ein einfacher kleiner Versuch und: Bingo!

Erstaunlicherweise funktioniert so etwas auch in Ausnahmesituationen, in denen man am liebsten flüchten möchte, aber nicht kann, weil man sich in einer verdammt misslichen Lage befindet. Kopf nach unten, gefangen in einem Zahnarztstuhl, der selbst im Mittelalter schon der perfekten Folter zuträglich gewesen sein müsste. Wie kann ein Zahnarzt bloß an einem Menschen arbeiten, dem sämtliches Blut in den Kopf läuft? Ich möchte gar nicht wissen, ob dem Typen auf der anderen Seite des Folterstuhls genauso oft schlecht wird, wie der armseligen Kreatur, die dort liegt.

Hilflosigkeit trifft das Gefühl nicht richtig, wenn man meint, dass Herr Dentist unter Zuhilfenahme von Löffel, Kratzer und Zange durch den Oberkiefer ins Hirn eindringen will und man ergeben fast vom Stuhl rutscht. Wenn er seiner Assistentin genauestens erklärt, was er da gerade macht und man das gar nicht hören will, aber aufgrund der Instrumentenansammlung zwischen Zunge und Beißleiste nicht mal mehr stöhnen kann. Dann ist es gut, wenn man sich wieder an die magische Wirkung des Wortes „Wind“ erinnert, bevor man mit Muskelkrämpfen und verknoteten Fingern in Ohnmacht fällt. Erstaunlicherweise hilft dieses Wortspiel sogar auf der Schlachtbank, wer hätte das gedacht!

Und wenn man dann dickbäckig im Bett liegt und trotz aller genauestens befolgten Hilfsmaßnahmen  ein unaufhörliches Pockern im Schnabel verspürt…dann kaut man auch den Wind, um irgendwie zur Ruhe zu finden.

Es hat funktioniert, und ich empfehle es gerne weiter für sich eventuell anbahnende Zahnarztkatastrophen oder Röntgenröhrenbesuche, die ich natürlich niemandem wünsche.
Denn wenn man am nächsten Tag aussieht wie ein total überfütterter Goldhamster, nützen einem auch die schönsten W-Wörter nichts mehr.

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5 Gedanken zu “Kauwörter

  1. Das fand ich sehr interessant, weil selbst erlebt, was hier so gut beschrieben. Ich versuche ja immer, intensive Gedanken durch andere intensive Gedanken zu vertreiben, z.B. lesen oder so. Das mit dem „Wind“ hab ich ausprobiert beim Zahnarzt. Zwischen den Zahnlücken an seinem Bohrer vorbei hab ich immer wieder „Wiiiind“ gezischt. Er hat mich nur komisch angeblickt, mir ein zweites Glas Wasser birngen lassen und den Puls gefühlt..

  2. An ein solches Kauwort während einer der wenigen schlaflosen Nächte kann ich mich auch erinnern. Es lautete „Bupivacain“, dröselte mich aber dermaßen auf, dass an Schlaf in dieser Nacht überhaupt nicht mehr zu denken war.
    Ich rate zur Vorsicht!
    Aber tadellos beschrieben. Danke für den Lesegenuss sagt
    Idy

  3. Gut, dass das kein aktueller Zahnarztbesuch war, oder?

    Hätte der Otto auch mal ausprobieren sollen, BEVOR er wahnwitzige Weltkriegsvergleiche anstellt.
    Und ich teste die Ws auch mal. Obwohl mir momentan so langsam wieder nach F-Wörtern ist. Also nicht die mit ck am ende sondern mit 95.

    Kennste das noch?

    Kauwörter

  4. Auweiowei Frau Flaschengeist, nach diesem Bericht plagt mich nun mein Mitgefühl für Dich…obwohl ich ja beim Lesen heftig schmunzeln musste. Om Nahmah Shivay

  5. Mantras nennt man so was, gell oder? So was wie „Oh Mamma Papa omm“. Ich hab auch eins! Und das hat auch was mit Wind zu tun. Also mit Atmen meine ich. Das geht so: „Good in (langsam Luft holen), bad out (langsam ausatmen)“ Weiß auch nicht warum auf englisch … nuja „Gutes rein, Schlechtes raus“ klingt ja irgendwie seltsam, find ich. Jedenfalls hilft mir dieses GIBO in ganz ähnlichen Situationen wie dir dein Bruder Wind. Obwohl bei meinem … also da kommt gar kein „W“ drin vor. Seltsam. Egal, schön hast du das geschrieben. Mag ich. Äscht.

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