Rezension
Wenn man die Korrespondenz fremder Leute liest, hat das etwas Voyeuristisches. Dieses Gefühls kann man sich auch dann nicht erwehren, wenn diese Korrespondenz als Briefroman (Autor: Thomas Klugkist) daher kommt. Also versucht man zumindest, eine Beziehung zu den Briefeschreibern aufzubauen, damit sie einem nicht gar so fremd sind.
Im Fall von „Hanna und Sebastian“ ist das mit der Beziehung nicht so einfach. Sie haben es mir nicht leicht gemacht.
Ohne zu viel vorab verraten zu wollen: Die beiden haben nach dem Abitur einen 10-Jahresplan verabschiedet, der vorsieht, sich mindestens alle 10 Jahre in einer europäischen Metropole zu treffen. Den Anfang macht Rom und unmittelbar nach dieser gemeinsamen Reise beginnt der Briefroman.
Dem Leser wird ziemlich schnell klar, dass die beiden durch eine besondere Beziehung verbunden sind, obwohl sie im landläufigen Sinne kein Paar sind – vielleicht mal fast eines geworden wären, wie ihre gemeinsame Rückbetrachtung zeigt. Nun definieren sie ihre Beziehung neu. Letztlich kommen sie dabei im Verlauf des Buchs zu dem Punkt, diese Beziehung als Liebe zu beschreiben. Eine andere Form der Liebe, wobei dieses „anders“ eines der Hauptthemen ist, das sich durch das Buch zieht. Das geht tief, wenn sie sich in ihren geschützten Raum des geschriebenen Worts zurückziehen. Der gemeinsame Schwur, sich stets die Wahrheit zu sagen und dieses Prinzip über alles zustellen, ist dabei ein schöner Kniff des Autors, dem Leser tiefe Einblicke in das Seelenleben der beiden zu gewähren und sie ihm so näher zu bringen.
Leider ist das bei mir nicht ganz gelungen. Im Briefwechsel werden viele Themen gestreift und zu allem Möglichen Gedanken ausgetauscht. Sebastian ist dabei reichlich verquast. Als Leser komme ich nicht an ihn ran. Es beruhigt mich fast, als Hanna an einer Stelle schreibt, dass es ihr nicht gelingt, auf seine Flughöhe zu kommen. „Ich auch nicht“, wollte ich an den Rand schreiben. In das Abgehobene mischt sich bei den irdischen Themen aus Gesellschaft und Ökonomie auch Moralinsäure. Mir bleibt Sebastian dadurch fern.
An Hanna komme ich deutlich besser ran. Ich habe mir während der Lektüre Textstellen markiert, die mir auf- oder gefielen. Im Nachhinein hat sich herausgestellt, dass das deutlich mehr in Hannas Briefen der Fall war. Wenn sie sich in manchen Passagen mit Sebastians Höhenflügen auseinandersetzt, stellt sie ihre pragmatische Art dagegen. Sie ist analytisch, zieht Schlüsse und setzt diese konsequent um. Das lässt ihr Wesen offener erscheinen und macht sie mir angenehmer. Zumindest über weite Strecken.
Die jeweiligen Partnerschaften von Hanna und Sebastian ziehen sich als weiterer Strang durch das Buch. Beide leben in festen Beziehungen, aber während sich Sebastian sehr auf seine Partnerin fixiert, ist sich Hanna ihrer Wirkung auf Männer sehr wohl bewusst. Bei allen Prinzipien ist sie einem Flirt nicht abgeneigt. Sie erweckt dennoch nicht den Eindruck eines Männermordenden Vamps sondern wirkt dabei (auf mich) sympathischer. Sebastian wirft sie vor, dass er sie zu Schulzeiten wohl eher als erotinfreies (schöner Begriff!) Wesen gesehen hat. Ob das tatsächlich so war oder Sebastian sich nur nicht getraut hat, sich ihr zu nähern, habe ich nicht so recht herauslfinden können.
Letztlich sind es harte Schicksalsschläge in den Partnerschaften der beiden, die für Pausen im Dialog und somit für die Dreiteilung des Romams sorgen. Erstrecken sich die ersten beiden Teile über ca. ein Jahr, umfasst der intensive 3. Teil nur 4 Monate. Vom Text-Umfang sind die drei Teile jedoch annähernd gleich groß. Dauert die erste Pause fast fünf Jahre, liegen zwischen zweitem und dritten Teil noch nicht mal 2 Monate.
Ohne zu sehr auf einzelne Inhalte eingehen zu wollen. Hannas Verarbeitung des Themas Kindesmissbrauch durch die sexuellen Übergriffe des Stiefvaters hat auf mich arg widersprüchlich zu ihrer Art gewirkt. Dass ihre Schwester, die ebenfalls darunter zu leiden hatte, dadurch komplett in den Wahnsinn getrieben wurde, ist da ein Kontrapunkt, aber auch eher nachvollziehbar, stimmiger. Insgesamt überfrachtet dieses Thema das Buch in meinen Augen zu sehr. Weniger kann mehr sein. (5€ ins Phrasenschwein.)
Auch dass sich Hanna und Sebastian nie getroffen haben, ist bei der räumlichen Nähe von Hamburg und Berlin sowie der beiderseitig ausgedrückten Sehnsucht, sich sehen zu wollen, nur schwer nachvollziehbar.
Gehadert habe ich vor allem mit dem dritten Teil des Buchs. Da driftet mir Sebastian auf der einen Seite viel zu sehr ins Transzendente, Überirdische ab. Hannas Beschreibung ihres sexuellen Lebens ist mir hingegen zu ausschweifend, wirkt aber auf der anderen Seite merkwürdig distanziert und von außen betrachtet. Für mich hat der Abschnitt einen hohen Nerv-Faktor
Gut gefallen hat mir das Spiel der beiden mit ihren Anreden und Schlussformeln, die durch Präfixe und Adjektive oft auf einander Bezug nehmen. Kommt auf der einen Seite eine positive Nachricht an, wird der Faden mit „Mein Lieblingsmensch“ aufgenommen. Nennt Hanna in ihrem Brief die Dinge klar beim Namen und schließt mit „deine unbeschönigte Hanna“, greift Sebastian dies in seiner Antwort mit „Meine Hannaschöne“ auf. Das verleiht dem ganzen einen leichten, verspielten Zug, der dem Buch gut tut.
Bei aller bis hier geäußerten Kritik habe ich die Lektüre des Buches nicht bereut. Ich hab mich zwar dran gerieben, aber Reibung erzeugt Wärme und die Auseinandersetzung mit dem Buch und mit den beiden Protagonisten regt die grauen Zellen positiv an. Das hat auch Spaß gemacht. Auch das offene Ende stimmt mich positiv. Selbst wenn im Epilog aus dem Dialog ein Monolog wird. Ohne es besser fassen zu können, rundet er das Buch bei allen Holprigkeiten, über die ich gestolpert bin, irgendwie(!) ab.
Hanna und Sebastian sind nicht Emmi und Leo. Gewiss nicht. Aber das sollen sie auch gar nicht sein. Sie haben es verdient, als sie selbst wahrgenommen zu werden.
Titel: Hanna und Sebastian
Autor: Thomas Klugkist
429 Seiten, gebunden
Verlag: C.H. Beck
ISBN: 978-3-406-65360-7