Winterrose



Ich sah sie nur aus diesem einen kleinen Winkel meines linken Auges.

Sie sah nicht alt aus, doch irgendwie „trocken“. Wie diese letzte Winterrose in unserem Garten, die sich tapfer der Sonne entgegen bäumte und doch ihren Durst behielt.

Ihr Lächeln schien irgendwie voran gegangen zu sein. Ob das möglich war? Dass sich das Lächeln vor der Zeit verabschiedet, bevor das letzte Lächeln der Seele dann folgte? Wohin auch immer?

Sie schien zu warten.
So wie jeder, der sich an diesem neonlichtdurchfluteten Ort aufhielt, wartete.
Warten.
Warten worauf?
Auf einen Menschen, der sich des letzten kleinen Selbst annahm? Der einen nicht allein ließ an diesem unsensiblen Ort, mit der Wartenummer in der Hand und der Handtasche, dort zwischen die Beine geklemmt, ein Geschenk von irgendwann Weihnachten?

Woher sollte ich auch nur annähernd wissen?

Klein sah sie aus, so klein.
Und auch allein, sicherlich.
Ich ging meines Weges, meiner Geschäfte nach, die mich an diesen letzten Tagen vor Weihnachten doch so zeitnötig trieben. Und irgendetwas ließ mich ein paar Schritte später doch innehalten.

Hatte ich in den wässrigblauen Augen nicht so etwas wie Angst und Sehnsucht gesehen?
Ging das überhaupt? Angst und Sehnsucht gleichzeitig zu fühlen, ohne sich dabei gefühlsmäßig zu verheddern?
Egal, was es war, es ließ mich nicht weiterhetzen zu den Terminen, die ebenso gut auch warten konnten.

Ich ging langsam zurück.
Schritte behutsam zu setzen, das war etwas, was mir im Laufe eines Lebens strammen Schrittes nicht mehr geläufig war.
Ich blieb vor ihr stehen. Vor ihr, dieser scheinbar letzten Winterrose, die so schutzlos und dennoch so stark aussah.

„Kommen Sie mich holen?“ fragte sie mich.

[Schlucken tut nicht nur bei Halsschmerzen weh.]

„Nein, ich muss ehrlich sagen, dass ich gar nicht weiß, wer Sie sind.“

„Und warum kommen Sie dann zurück, obwohl Sie doch so in Eile sind?“

„Ich weiß es nicht.“

Ein Schweigen, das zwar peinlich anzumuten schien, aber in diesem Moment gar nicht peinlich war, machte die Antwort umso überraschender:

„Wollen wir einen Kaffee trinken?“

[Ohja, gerne….]

Und sagte es auch, obwohl ich mir so dämlich vorkam, als ich auf diese Art und Weise in ihre Privatsphäre eindrang.
Wir tranken Kaffee und rauchten eine Zigarette, ganz still, nur in den Augenblicken verharrend, die wir uns in diesem Moment schenkten.

„Ich habe Krebs.“

[Winterrose!
Warum kann ich jetzt nichts sagen?]

„Ich habe meiner Familie gesagt, dass ich über Weihnachten nach Gran Canaria fliege. Sie sollen sich keine Sorgen machen, sie sollen fröhlich sein und mir eine SMS schicken an Heiligabend.“

[Soll ich dir wirklich sagen, dass du dein Handy nicht anmachen darfst, in dieser Klinik, Winterrose?]

„Sind Sie an Weihnachten auch allein?“

[Nein, ich habe das Glück, nicht allein zu sein und mich darüber zu freuen, dass wir zwar keinen Weihnachtsbaum haben, aber eben uns.]

„Warum sagen Sie denn nichts?“

[Ich kann nicht.]

„Ich seh´ schon, Sie haben keine Zeit.“

„Doch, ich habe Zeit, aber so wenig Worte. Und die Worte, die ich habe, die sind so leer, im Moment.“

„Warum?“

„Wissen Sie, ich habe kurz nach Weihnachten mal jemanden verloren, der mir wichtig war. Und ich frage mich, ob ich genug getan habe. Ich frage mich, warum dieser Mensch an Weihnachten allein sein wollte und mir diese Schuld ins Herz gepflanzt hat. Was soll ich denn jetzt sagen, ohne dass es sich lächerlich anhört?“

Die Winterrose lächelte.
Das Lächeln war also doch noch nicht verreist.
Und wie mich das erleichterte, in diesem Moment zwischen Neonlicht und Café Creme.

„Haben Sie Lust, mich zu besuchen?“

[Ja!]

„Sagen wir mal…am 26., wenn das Thema Familie irgendwie durch ist? Mögen Sie?“

[Ja, Winterrose, ich mag! Und ich bringe auch keine Geschenke mit, versprochen!]

4 Gedanken zu “Winterrose

  1. Hab schon lange keinen Text mehr gelesen … der mich so berührt hat, liebe Frau Flaschengeist. Dank dir!!!

    Muss mich jetzt hier mal so ganz allmählich durch die Tüte graben …. alles so neu hier. Aber dein Stil ist unverkennbar … mir doch sehr vertraut.

    Tut so richtig gut, mal wieder was von dir zu lesen :)

    LG djembe

  2. Ja dau schau her…hier bewegen sich Idys und Hutmachers…und ich hab auch mal wieder den Weg in die Wundertüte gefunden…danke für die Kommis, freut mich. Dies ist ein ganz altes O.-Schätzchen von mir. Ob Winterrose noch lebt, entzieht sich leider meiner Kenntnis. Wünschen würde ich es ihr!!!

  3. Genial gut, Frau Flaschengeist! Hab den Noppenanzug an, sozusagen. Lebt Winterrose noch? [Wenn ja, dann bestell ihr einen Gruß von mir.]

  4. Im Originalton von Frau Flaschengeist geschrieben, den ich so mag und der mir einige Zeit gefehlt hat.
    Danke für diesen nachdenklich machenden Text, der perfekt zu einem trüben kalten Frühlingsnachmittag nach unverhofften Sonnentagen passt.
    Lieben Gruß
    Idy D.

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